NACH  WIEN

„Ich würde gerne in Wien leben“, sagst du an einem Tag,
an dem dir das Berliner Pflaster fast die Sohlen wegbrennt.
„In Wien gibt’s noch Atmosphäre“, sagst du,
während du den Rest vom Döner herunterwürgst.
„In Wien gibt’s jede Menge Rechte und die Balkan-Mafia.“ Das weiß ich.
Du lachst. „All die dummen Nazis und die Mafia sitzen hier
und Populisten gibt es überall.“
Ich hasse diesen Zwiebelrest an deinem Mundwinkel.
„Und Wondratschek wohnt auch in Wien.“
„Wondratschek? Wieso denn der? Ist der nicht tot?“
„Wondratsschek lebt und schreibt in Wien. Hans Moser, der ist tot.“
„Wer, zur Hölle, ist Hans Moser? Schreibt der auch?“
Du schlürfst jetzt Kaffee aus einem Pappbecher.
Das ist neuerdings verboten und ich hasse die Zwiebel an deinem Mundwinkel.
„Die Kultur“, schwärmst du, „die Sprache, der Dialekt ist wie Gesang.“
„Multikulti gibt es hier auch.“ Wie mir dieses Gelaber auf die Nerven geht.
„Und Turkideutsch par excellence, spricht sonst keiner.“

Wenn ich aufs Land fahre, durch die kleinen Kaffs,
mit dem gesunden Gemüseanbau und den Schützenfesten,
dann denke ich meistens an Obstfliegen und weiß nicht warum.
Es kommt mir in den Sinn, dass die kleinen Kleber
sich zusammenrotten und diese Stadt übernehmen.

„Die Berge im Hintergrund“, sagst du und zerdrückst den Pappbecher.
Wenn du den auf den Boden wirfst, dann bringe ich dich um
und verscharre dich unter zehn Kilo Hundescheiße.
„Ja, in Wien würde ich gerne leben“, sagst du nochmal.
„Meine Güte, dann geh' doch und verpiss' dich nach Wien
und wisch dir endlich den Mund ab.“

© Copyright 2019 Jörg Reinhardt, Berlin

zurück

DER   ZEITUNGSLESER

Er kam über die Straße geschlendert, die Hände in den Hosentaschen,
und blieb vor dem Tisch des Zeitungslesers stehen,
der sich gerade zwei Stück Zucker in den Kaffee getan hatte
und konzentriert mit einem kleinen Löffel in seiner Tasse herumrührte.

„Haben die was gebracht, die ganzen Bücher, die du gelesen hast“,
fragte der Junge und spuckte auf den Fußweg.
Der Zeitungsleser blickte kurz auf, rührte weiter und sagte nichts.
Der Junge starrte ihn an und wich keinen Zentimeter von der Stelle.
Der Zeitungsleser legte den Löffel auf die Untertasse.
„Was willst du von mir, ich kenne dich nicht.“ Er machte mit der Hand eine Geste,
als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen.
Dann nahm er die Zeitung und schlug die Titelseite auf.
„Hab' ich doch gesagt, ich will wissen, ob das mit den Büchern was gebracht hat.“
Der Zeitungsleser wurde wütend auf den Jungen,
der immer noch dastand wie in einem schlechten Western,
kurz bevor der Held den Revolver zieht.
„Verpiss' dich“, zischte er und rückte seinen Stuhl ein Stück nach hinten.
„Sonst was?“ Der Junge stand da wie eine Statue.
„Würd' ich nicht drauf ankommen lassen, Bursche.“
„Ich kenn' dich, du schreibst über Bücher, machst sie runter, weil du denkst,
du kannst das besser. Also, was haben dir die Bücher gebracht?“
Der Zeitungsleser war überrascht von der Hartnäckigkeit des Jungen.
Er dachte einen Moment über eine kurze Antwort nach,
weil der Junge offensichtlich nicht ganz verblödet war und den Literaturteil der Zeitschrift las,
für die er eine regelmäßige Kolumne schrieb. Die Erwiderung musste knapp und prägnant sein,
er hatte keine Lust, mit diesem Halbstarken ewig zu diskutieren.
Er überlegte, trank einen Schluck Kaffee, dachte nach, glättete die oberste Seite der Zeitung,
trank noch einen Schluck, rührte im Rest des Kaffees herum und dachte weiter. Nichts.

„Verpiss' dich endlich, das geht dich gar nichts an!“
Er schlug energisch die Sportseite auf und vertiefte sich in die Ergebnisse der Regionalliga.


© Copyright 2019 Jörg Reinhardt, Berlin

zurück

VORORTZUG

Es macht keinen Unterschied, gestern, heute oder morgen.
Der Bahnhof, an dem ich losfahre, oder der, an dem ich ankomme.
Dazwischen liegen 57 Minuten, wenn alles klappt.
Manchmal muss der Zug halten,
wenn etwas auf dem Gleis weggeräumt wird, was nicht dort hingehört.
Es wird vorsichtig getestet, ob alles in Ordnung ist.
Mitten auf der Strecke, rechts und links nur endlose Felder,
vielleicht mal eine Baumreihe vor dem Horizont und ein Windrad.
Oder eine Vorstadt mit den Häusern am Bahndamm, in denen Menschen hin und her rennen,
zum Essen, Duschen, Räumen oder um einen Platz zu suchen, an dem sie etwas Ruhe finden.
Aus den Fenstern springt das Licht der aufgeregten Fernsehbilder,
die befehlen, was am nächsten Tag zu tun ist,
Angst vor einem neuen Anschlag haben, ein Shopping-Centers besuchen,
um die neuesten Geräte zur schnelleren Verblödung anzuschaffen,
oder zeigen, wie man seine Möbel aufzubauen hat,
um der Seele jeden Tag ein Stück vom großen Glück zu schenken.
Die kleinen Straßen, die von den Häusern in die Felder führen,
wo man keinen aufdringlich läutenden Kirchturm sehen muss,
der daran erinnert, wo der Nabel dieser kleinen Welt liegt.

Der Zug fährt weiter, weil er immer weiterfährt.
Er belohnt den Reisenden mit hohem Tempo,
die Vorstädte sind keinen Gedanken mehr wert,
sie fliegen vorbei mit den Kirchtürmen, den kleinen Straßen,
Gewerbegebieten, Häusern, Vorgärten, Fernsehern und Menschen,
die sich gerne darin verlaufen, weil sie fest daran glauben, dorthin zu gehören.

Jeden Tag in 57 Minuten die Welt da draußen durch beschlagene und verdreckte
Fenster von Vorortzügen zu sehen ist der Beweis,
dass etwas stehenbleiben kann, obwohl es sich bewegt.
Dazu kann man, wenn man Glück hat,
einen Instantkaffee im Pappbecher bekommen.



zurück

© Copyright 2019 Jörg Reinhardt, Berlin