NUR  EIN  KONTROLLEUR

Es war ein Kontrolleur. „Ihren Fahrschein, bitte“, sagte er mit einer lächerlich heiseren Stimme. Ein kleiner Mann mit kleinen Ohren und einer kleinen Brille. Er reichte mir bis zur Kinnspitze. Um ihn anzusehen, musste ich nach unten schauen. „Ihren Fahrschein, der Herr“, krächzte er unsympathisch etwas lauter. Ich blickte zum Streckenplan über der Waggontür.
„Verstehen Sie mich, ich würde gerne Ihren Fahrschein sehen. Ticket!“ Er trat einen Schritt zurück. Zwischen zwei Bahnhöfen wurde der Zug langsamer. Ich sah zu ihm herunter und erinnerte mich an meinen Englischlehrer. Der war auch so ein giftiger Kleiner und pfiff vor sich hin, bevor er jemanden an die Wandtafel zitierte und zur Schnecke machte.
Der Kleine suchte jemanden, er blickte nach links und nach rechts und entdeckte seinen Kollegen, der gerade am anderen Ende des Waggons eine alte Dame erschreckte. Die Kontrolleure hatten eine Geheimsprache, beide nickten ein paar Mal mit dem Kopf. Der Kontrollkumpel machte ein paar Schritte in unsere Richtung, wurde aber von einem Betrunkenen angelabert.
Ich beugte mich vor und fragte: „Was? Was willst du, kleiner Mann?“ Er starrte mich entgeistert an. Dann zu seinem Kumpel, der von dem Betrunkenen verdeckt wurde. Der war nämlich aufgestanden.
„Ihren Fahrschein will ich sehen“, sagte er nervös. „Sie haben doch einen Fahrschein?“ Seine Augen machten Männchen.
„Ich guck' mal bei Gelegenheit“, sagte ich und sah aus dem Fenster. Der Zug hatte wieder Fahrt aufgenommen.
Mein Kontrolleur schien hin- und hergerissen, denn sein Kumpel steckte gerade in Schwierigkeiten. Der Betrunkene wollte ihn nicht vorbeilassen. Mein Kleiner reckte das Kinn in die Richtung und rief: „Hannes, alles in Ordnung bei dir?“ Es kam keine Antwort. Er drehte sich zu mir und sagte: „Warten Sie hier und suchen Sie Ihren Fahrschein, ich bin gleich zurück.“ Er kämpfte sich durch den Waggon, weil ein paar Leute plötzlich aufgestanden waren, die an der nächsten Station aussteigen wollten. Mich interessierte das und ich folgte ihm, bekam ein paar Seitenhiebe von unwilligen Fahrgästen.
Zwei Sitzreihen vor seinem Kumpel und dem Betrunkenen ging es nicht weiter. Ich stand direkt hinter ihm. Er war eingekesselt von schwitzenden, stinkenden Feierabendkörpern, griff in seine Jackentasche und holte ein Plastikkärtchen hervor. Damit fuchtelte er herum und rief: „ Kontrolle, bitte machen Sie den Weg frei!“ Das Einzige, was er erreichte, war, dass sich der Betrunkene zu ihm umdrehte und laut „Ham die heute 'n Betriebsauflug?“ lallte.
Währenddessen hatte die alte Dame ihren Fahrschein gefunden und zupfte am Arm von Hannes wie ein kleines Kind. „Hier, sehen Sie, alles in Ordnung, sehen Sie“, rief sie und zog energischer am Jackett. Der Mann versuchte sich loszureißen und auf den Betrunkenen zu konzentrieren, der fast auf seinen Schuhspitzen stand.
„Hannes“, plärrte mein Kleiner, „ kannst du mal kurz kommen?“ Er bekam einen kräftigen Stoß von einer dicken Frau, die an ihm vorbei wollte. Dabei fiel ihm seine Ausweiskarte auf den Boden. Blitzschnell hatte ich meinen Fuß darauf gestellt. Er blinzelte mich wütend an. „Sie? Sie sollten doch Ihren Fahrschein ...“ Ein weiterer Stoß von der dicken Frau ließ ihn fast auf den Sitz fallen, er konnte sich gerade noch an einer Haltestange festklammern. „Gehen Sie von meinem Ausweis herunter!“ Ich dachte gar nicht daran, trat wie beim Schuheabputzen noch zwei Mal darauf herum.
„Hannes!“, blökte er in Richtung Hannes, der im Strudel der Aussteigewilligen zur Waggontür gedrängt wurde. Ich hörte den Betrunkenen laut lachen. Er amüsierte sich prächtig: „Hannes, das Frauchen ruft.“ Hannes war im Pulk der Köpfe nicht mehr zu sehen, er hatte wohl aufgegeben.
„Runter von meinem Ausweis, das hat Konsequenzen.“ Ein wahrer Beamter, machte sein Leben von einer Plastikkarte abhängig. Gefährlich.
„Hey, Mann, musst du hier rumeiern? Ich will aussteigen.“ Ein großer, schwerer Mann im Blaumann hätte meinen Kleinen fast an die Haltestange genagelt. Er baute sich vor ihm auf und sagte: „Fahrscheinkontrolle, Ihren Fahrausweis, bitte.“
Die Situation war grotesk. Der Riese und der Kleine mit der verrutschten Brille und hochrotem Gesicht. Und dann der Spruch.
Der Blaumann lachte kurz auf und sagte fröhlich: „Angenehm, Kaiser von Feuerland, entweder du gehst da weg oder weiter.“ Der Kleine war kurz davor, in Tränen auszubrechen, und bevor ich entschieden hatte, ob es Verzweiflung oder Wut war, nahm ich meinen Fuß vom Ausweis. Kamikazemäßig stürzte er sich darauf und genau in den Laufweg eines Anzugträgers mit Smartphone in der Hand, der ein angewidertes Schnauben hören ließ. Hinter mir ein weiterer Fahrgast: „Kann nicht mal jemand den Kleinen zu seiner Mutter bringen? Unglaublich, die lassen die Bälger überall auf dem Boden krabbeln.“
Der kleine Kontrolleur hatte seinen Dienstausweis in der Hand, als er wieder auftauchte. Er reinigte das Plastik von meinem Fußabdruck. Dann ließ er sich mit dem Strom zur Tür treiben, hielt sich an der letzten Haltestange fest und ließ die Fahrgäste aussteigen. Er war ein ganz harter Brocken und machte sich bereit für die nächste Runde. Wahrscheinlich alleine, denn von Hannes keine Spur. Draußen drehte ich mich um. Er rückte gerade seine Brille zurecht. Ich winkte und rief: „Ich seh' zu Hause mal nach. Wegen Ticket.“ Wahrscheinlich hatte er mich gar nicht gehört, denn gerade brach eine Welle neuer Fahrgäste durch die Abteiltür.
Fast wäre ich in die dicke Frau gelaufen, die plötzlich vor mir stand und wie eine Verhaltensgestörte auf ihr Handy eindrosch. Sie bemerkte mich, hielt kurz inne und fragte: „Was war das denn da drin für einer? Schon wieder so ein Psycho? Amokläufer?“
„Nur ein Kontrolleur“, sagte ich, lächelte und machte mich auf den Weg zum Ausgang, während sie ihr Zerstörungswerk am Handy fortsetzte.


© Copyright 2019 Jörg Reinhardt, Berlin

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LEGITIMATION

„Gut“, hatte der Maler eines Tages gesagt, „dann höre ich eben auf. Die Bilder will keiner sehen, die Welt braucht sie nicht, ich schau' sie auch nicht mehr an und mein Nachbar meint sogar, dass es schade um die Leinwand ist. Dann werde ich eben Kunstkritiker.“
Er fing an für ein kleines Lokalblatt zu schreiben, besuchte Galerien und Museen und hatte großen Spaß daran, die Fehler und Inkompetenz sogenannter Künstler anzuprangern. Wo es zu loben gab, lobte er, wo er Unfähigkeit sah, verriss er gnadenlos. Dann schlug er schon mal über die Stränge und bestrafte besonders untalentierte Maler mit beißender Polemik.
Nach einer dieser Attacken meldete sich ein Künstler bei ihm und fragte: „Sagen Sie, nachdem meine Bilder in drei anderen Städten positiv besprochen wurden, interessieren mich die Beweggründe für Ihren Verriss. Darf ich fragen, welche Qualifikation Ihrer Expertise zugrunde liegt?“
Der Kritiker war erstaunt, dass sich ein Künstler überhaupt auf eine Kritik in einem kleinen Lokalblatt meldete. Er konnte sich kaum an dessen Werke erinnern. Allerdings war er auch der Meinung, dass diese Frage eine Anmaßung und eigentlich zu ignorieren war. Andererseits hatte er als ehemals aktiver Maler die beste Qualifikation überhaupt zu haben, und das konnte man dem Frager nachdrücklich klar machen. Also antwortete er:
„Ich habe die Malerei aufgegeben, weil niemand meine Bilder sehen wollte. Ich habe aufgehört, weil ich festgestellt habe, dass die Welt meine Bilder nicht braucht und sie offensichtlich nicht gut genug sind. Bitte sehr, aus dieser Erkenntnis und Weitsicht folgt meine Qualifikation.“
Der Frager wurde in einem folgenden Brief noch anmaßender, in dem er etwas von Kritikern schrieb, die frustrierte verhinderte Künstler seien, dergleichen unsachliche Aussagen mehr machte, doch der Kritiker ließ sich auf keinen weiteren Disput mehr ein, denn wenn seine Qualifikation in dieser Form in Frage gestellt wurde, dann musste man den anderen zwangsläufig ignorieren.
So viel Konsequenz musste sein.


© Copyright 2019 Jörg Reinhardt, Berlin

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