EINE ABRECHNUNG

Der Alte sagt: „Ich lebe meine Tage runter.
Die werden immer kürzer. Wenn ich morgens
aufwache, bin ich mittags müde.
Abends schlafe ich früh ein. Das mache
ich noch zehn, zwölf Jahre, dann bin ich weg.
Die Zeit war nicht mein Freund.
Sie hat mir viel gestohlen. Dinge,
die ich nur kurz hatte, viel zu kurz.
Liebe, Vergnügen, Hoffnung. Alles gestohlen.
Wenn es Gott gibt, vergibt er mir
und verurteilt die Zeit. Ich hatte einen Traum.
Söhne und Töchter statt Lug und Trug.
Aber vergeudete Liebe, verstoßene Gefühle und wieder die Zeit,
die mir meine Verluste nicht ersetzt hat.
Keine Hoffnungen mehr.
Der Spaß hat auch gefehlt, nur für Geld
ließ er sich herab, mir seine Medikamente zu reichen,
ein paar Tabletten, ein wohlwollendes Maß Alkohol,
um die starren Dinge in meinem Leben
für ein paar Stunden tanzen zu lassen.
Freundschaft wurde missbraucht, Angebote ausgeschlagen,
der Dank für Loyalität war oft die Ungnade,
in die man ohne Gnade fallen kann.
So manches Mal mit einem Stein der Verachtung um den Hals,
so schwer, dass ich nicht mehr aufrecht laufen konnte,
nicht deutlich sprechen, nur Gewinsel, Geplärre
nach Erlösung oder zumindest Erleichterung.
Das lebt sich jetzt so ab, Tag für Tag,
immer schneller, kürzer, bitterer,
mit dem Gefährten Selbstmitleid stets an meiner Seite,
dem ein Glas am Abend längst nicht mehr reicht.
Der immer wieder aufjault, wenn er Schmerzen hat,
als wäre er alleine auf der Welt,
als würde es nichts anderes geben
als verlorene Worte in betrogenen Seelen.
Der Mensch steht immer da, wo er hin wollte,
sagen die Philosophen, Psychologen, Parteigenossen,
alle verkünden eine verlogene Religion
der kalten und verächtlichen Berechnung,
haben Herzen aus Granit und Gefühle aus Eis.
Das lebt sich ab, noch ein paar Tage, Monate, Jahre,
die immer kürzer werden, immer schneller,
und wer weiß, wie die Erlösung aussieht.

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Copyright, 2015 für alle Texte by Jörg Reinhardt