DIE  TANNE

Die Tanne vor dem Fenster
nickt ihren Morgengruß herüber.
Es dauerte lange, bis sie sich
an mich gewöhnt hatte.
Ob wir Freunde sind,
kann ich nicht sagen,
sie hatte ja keine Wahl,
aber sie hätte mich ignorieren können.
Hinter ihr hebt sich das Grün
der Wiese vom unfreundlichen Grau
des kühlen Sommertages ab und
wir denken beide nicht,
dass sich diese Aussicht
in den nächsten Stunden ändern wird.

Sie stört das nicht, solange
sie sich nicht gegen einen Sturm
verteidigen muss.
Eigentlich stört sie gar nichts
und manchmal schaue ich zu ihr hinüber
wie ein Schüler zum Lehrer.
Das amüsiert sie,
oft biegt sie ihre Krone nach hinten.
Ein herzliches Lachen -
ein Mensch hinter einem Fenster,
der ein wenig neidisch
auf eine Tanne ist,
die auf einer Wiese steht.

Es scheint, als dächten wir manchmal darüber nach,
die Tanne draußen und ich drinnen,
wer von uns wohl älter wird.
Sie ist im Vorteil,
kennt ihre Feinde,
andererseits habe ich
die Möglichkeit zur Flucht.

Abends treffen wir uns. Jeden Tag.
Wie ein altes Ehepaar.
Bis das der Tod uns scheidet.
Dann wünscht sie eine gute Nacht,
schenkt mir ihr letztes Lächeln des Tages
und die Gewissheit,
dass sie nachts über mich wachen wird.

 ©2024,Jörg Reinhardt, Berlin


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