ROMANFIGUR Gern wäre ich die Hauptfigur. In meinem eigenen Roman. Ich würde mich um die Welt schicken, mal hier einen Job, mal da einen Monat Urlaub. Wenn ich mich schlecht fühlte, würde ich dahin gehen, wo es mir besser geht, wo Perspektiven und gute Prognosen auf der Straße liegen. Pause würde ich machen, den vollen Kopf an eine geduldige Schulter lehnen und leise vor Erschöpfung weinen. Man würde mich streicheln, in den Arm nehmen und mir versichern, dass ich ein wertvoller Mensch bin. Ich würde über Sandbänke schweben und auf Wellen reiten, mit Voldemort frühstücken, lunchen mit Nietzsche und im koksverstaubten Wohnzimmer von Sherlock Holmes dinieren. Würde Länder befrieden, Grenzen verschieben, das Klima verbessern und Menschen wieder zu Menschen machen. Brächte Satan und Jesus an einen Tisch, spendierte ihnen eine Flasche vom besten Whisky der Speyside und ließe sie erst wieder aufstehen, wenn sie beschlossen hätten, dass Adam, Eva, Schlange und Apfel nicht mehr am Anfang allen Übels stehen. Erschöpft und nach 1000 Seiten harter Kämpfe treffe ich die Frau, die meinen müden Körper und die erschöpfte Seele bei sich aufnimmt, die Wunden versorgt, die ich mir im Stacheldrahtwald des Lebens zugezogen habe. Dann fiele ein Schatten von etwas Großem auf uns, ein fein gewebtes Tuch edelster Stoffe, das sich schützend um unsere unvergängliche Liebe legte. Nichts, was uns etwas anhaben könnte, nichts, was uns trennt, weil wir wissen, dass unser Bündnis jedem Angriff standhält. Ich lasse das Telefon klingeln, schließe die Fenster, höre nicht auf die ungeduldigen Klopfzeichen an der Wohnungstür, ignoriere den kleinen Stapel Postsendungen auf dem Dielenboden, vergesse meinen Zahnarzttermin und übersehe den Berg nicht abgewaschenen Geschirrs in der Küche. Ich setze mich an den Schreibtisch und fange an zu schreiben. ©2023 Jörg Reinhardt
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