DIE
UNSCHEINBARE Sie gab sich keine Mühe. Ihre Mutter warf ihr mangelndes Selbstwertgefühl vor. Ihr Vater vermied jede Diskussion um ihr Aussehen und der Hauskater nahm Reißaus, wenn sie um die Ecke kam. Sie war nicht hübsch, nicht hässlich, nicht interessant und als Jugendliche wirkte sie schon alterslos. Sie fiel nicht auf, sie war da und doch nicht, wie ein Nebel kurz vor seiner Auflösung. Ob ihr das etwas ausmachte? Kaum, sonst hätte sie etwas verändert. Ihre Begegnungen mit einem Spiegel dienten nicht der Überprüfung ihres Aussehens, sondern der Kontrolle, ob es sie überhaupt noch gab. Ein schnelles Kämmen der Haare oder das flüchtige Auftragen einer Hautcréme am Morgen zeugten nicht von Eitelkeit, sondern war der Kompromiss, ein gewisses Maß an Normalität einzuhalten. Könnte man Geister sehen, wäre sie ein Prototyp, eine Erscheinung mit der stummen Anweisung: „Niemand fasst mich an, denn ich bin eigentlich gar nicht da.“ Sie konnte sehr gut damit leben, wurde dadurch plötzlich bekannt und zur Ikone einer neuen Szene, deren Hauptmerkmale das Unauffällige, Unaufdringliche und Unberührbare waren. Unzählige Teenager wollten so sein wie sie. Es entwickelte sich eine Anti-Szene, über die in Medien kaum berichtet wurde, weil es nichts zu berichten gab. Die Unscheinbaren gingen in Clubs, in denen sie sich langsam zu leiser Barmusik auf einer matt beleuchteten Tanzfläche bewegten und literweise den neuen Modedrink schürften - ein Glas stilles Wasser mit Eis und drei Minzeblättern. Die Männer trugen bequeme, leichte Cordanzüge in dezentem Grau, die Frauen bevorzugten einfache Baumwollkostüme in Sandfarbe. Wie jeder Trend kam und ging auch dieser. Und wurde durch einen neuen ersetzt. Ihr Leben ging weiter wie bisher. Dass sie für kurze Zeit berühmt gewesen war, hatte sie gar nicht wahrgenommen. Es ging an ihr vorüber wie ein kurzes Gewitter, das zwar alles vom Staub befreit, aber sonst nichts veränderte. Sie gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken, begegnete ihrem Spiegelbild mit der gewohnten Gleichgültigkeit und fügte sich weiterhin leidenschaftslos in den Alltag. So blieb sie unauffällig und unbeteiligt die Unscheinbare. ©2025, Jörg Reinhardt
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