ROMANFIGUR

Gern wäre ich die Hauptfigur.
In meinem eigenen Roman.
Ich würde mich um die Welt schicken,
mal hier einen Job,
mal da einen Monat Urlaub.
Wenn ich mich schlecht fühlte,
würde ich dahin gehen,
wo es mir besser geht,
wo Perspektiven
und gute Prognosen
auf der Straße liegen.
Pause würde ich machen,
den vollen Kopf
an eine geduldige Schulter lehnen
und leise vor Erschöpfung weinen.
Man würde mich streicheln,
in den Arm nehmen
und mir versichern,
dass ich ein wertvoller Mensch bin.

Ich würde über Sandbänke schweben
und auf Wellen reiten,
mit Voldemort frühstücken,
lunchen mit Nietzsche und im
koksverstaubten Wohnzimmer
von Sherlock Holmes dinieren.
Würde Länder befrieden,
Grenzen verschieben,
das Klima verbessern
und Menschen wieder
zu Menschen machen.
Brächte Satan und Jesus
an einen Tisch,
spendierte ihnen eine Flasche
vom besten Whisky der Speyside
und ließe sie erst wieder aufstehen,
wenn sie beschlossen hätten,
dass Adam, Eva, Schlange und Apfel
nicht mehr am Anfang
allen Übels stehen.

Erschöpft und nach
1000 Seiten harter Kämpfe
treffe ich die Frau,
die meinen müden Körper
und die erschöpfte Seele
bei sich aufnimmt, die Wunden versorgt,
die ich mir im Stacheldrahtwald
des Lebens zugezogen habe.

Dann fiele ein Schatten von etwas Großem
auf uns, ein fein gewebtes Tuch
edelster Stoffe, das sich schützend
um unsere unvergängliche Liebe legte.
Nichts, was uns etwas anhaben könnte,
nichts, was uns trennt,
weil wir wissen, dass unser Bündnis
jedem Angriff standhält.

Ich lasse das Telefon klingeln,
schließe die Fenster,
höre nicht auf die ungeduldigen
Klopfzeichen an der Wohnungstür,
ignoriere den kleinen Stapel
Postsendungen auf dem Dielenboden,
vergesse meinen Zahnarzttermin
und übersehe den Berg
nicht abgewaschenen Geschirrs
in der Küche.

Ich setze mich an den Schreibtisch
und fange an zu schreiben.


©2023 Jörg Reinhardt

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