Neujahr
Der Rauch des Feuerwerks hat sich verzogen. Keine bösen Geister
wurden vertrieben, es sind alle noch da, ein paar sind hinzugekommen
und haben ihre Spur der Verwüstung hinterlassen. Neujahr erwacht
langsam, blinzelt hoffnungsfroh und hebt leicht den Kopf. Bei
Tageslicht wird es feststellen, wie viel Arbeit zu erledigen ist, die
der Vorgänger, der sich schnell davongemacht hat, als die
Begrüßungszeremonien begannen, hinterlassen hat. Doch bevor
sich Neujahr ans Werk macht, legt es den Kopf noch einmal kurz
zurück, genießt die Ruhe und sammelt sich. Es hat viel
über die Menschen gelesen, mit denen es jetzt zwölf Monate
verbringen muss. Es war genug Zeit, sich vorzubereiten, als man ihm die
Nummer 2023 zuloste. Noch fühlt es sich den Herausforderungen
gewachsen, obwohl nicht alles zum Besten steht, aber es glaubt, wie
seine Vorfahren, an den Geist der Erneuerung. So dämmert es in den
ersten Tag und ahnt nicht, dass es die ruhigsten Stunden seines Lebens
bleiben sollen.
Lindow, 1.1.
Tonnentreter
Es gibt Tage, an denen könnte ich mein ganzes Leben in die Tonne
treten. Dann wäre ich ein Tonnentreter.
Berlin, 8.1.
Taube
„Tauben vergiften im Park“ singe ich dem Taubenjungen vor, das gerade
das erste Mal aus dem Nest in einem Bananenbaum gefallen ist. Es
tappert auf dem Kies vor der Terrasse herum und schaut bedröppelt.
„Ich geb dir einen Tipp für's Leben: Werde ein ordentlicher Vogel
und nicht so bescheuert wie deine Alten, die mir jeden Morgen auf den
Sack gehen“, rate ich ihm. Es sieht mich noch nicht mal an. Wird wohl
nur Spanisch gurren.
Maspalomas, 30.1.
Rolex
Es war schon fast dunkel und am Leuchtturm kam mir einer der farbigen
Strandverkäufer entgegen. Ich hatte ihn hier schon oft gesehen und
obwohl wir nie miteinander redeten, nickten wir uns bei jeder Begegnung
kurz zu, als würden wir uns schon ewig kennen.
An diesem Abend schien er ziemlich gut gelaunt, grüßte mich
schon von weitem und hob seinen rechten Arm halb hoch, der mit
mindestens zwanzig Armbanduhren beladen war. Er blieb stehen und als
wir auf gleicher Höhe waren, fragte er: “Auch Rolex?“ und zeigte
mit der freien Hand auf seinen Unterarm. Wir schauten uns kurz an und
lachten gleichzeitig los. So laut und beinahe hysterisch, dass sich ein
paar Flaneure erschrocken umdrehten. Mein Händler musste heute
einige Menschen getroffen haben, die bereit waren, eine Rolex für
20 Euro zu kaufen.
Immer noch laut lachend ging er weiter und die Uhren am zum Abschied
winkenden Arm glänzten im rotierenden Licht des Leuchtturms.
Maspalomas, 18.2.
Wartezimmer
Vorhölle!
Lindow, 3.3.
Zittern
Er lehnt am Geländer der Bushaltestelle und zittert. Die
Hände nicht unter Kontrolle. Was willst du ihm geben? Ein Heftchen
H? Eine Linie? Ein paar von diesen tschechischen Pillen, die einen
Ochsen ins Koma schicken können? Oder lieber den guten, alten
Flachmann?
Wie wäre es mit ein wenig Fürsorge und den richtigen Worten?
Lindow, 31.3.
Fehlentscheidung
Das Wartezimmer ist fast voll. Als ich eintrete, sehe ich als erstes
unseren Pfarrer. Wir sind uns schon länger nicht begegnet und
kürzlich hat mir jemand gesagt, dass er Krebs hat. Jetzt sitzt er
hier und ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Seine Haut ist
weiß, am Arm und am Kehlkopf stecken die Zugänge für
Kanülen. Der Platz ihm gegenüber ist frei und ich setze mich.
Traue mich kaum ihn anzusehen, weil mich sein Anblick tief getroffen
hat. Er blickt zu mir herüber, erkennt mich und grüßt
kurz mit der Andeutung eines Lächelns, das ich an ihm immer
gemocht habe, weil es puren Optimismus versprüht. Dann senkt er
den Kopf wieder und schaut auf seine übereinandergelegten
Hände. Man sieht, dass ihm das Atmen schwerfällt, doch es
kommt kein Laut über seine Lippen.
Er hat hier eine treue Gemeinde, aber auch die, die nicht der Kirche
angehören, sind „seine“ Leute. Unermüdlich kümmert er
sich um alle, die seine Hilfe und Unterstützung brauchen. Zu jeder
Tages-und Nachtzeit. Er war nie ein dogmatischer Kirchenmann, er ist
einfach nur ein Menschenfreund. Für jeden findet er die richtigen
Worte, sein Händedruck, weich, aber trotzdem verbindlich, ist
immer auch ein Versprechen gewesen, dass alles weitergeht, solange das
Leben dauert.
Seinen offiziellen Ruhestand darf er in diesem Jahr antreten, endlich
mehr Zeit für die Frau und die geliebte Natur, doch würde er
immer „der Pfarrer“ bleiben und auch nie anders darüber gedacht
haben.
Nun sitzt er geduldig im Wartezimmer, bis er an der Reihe ist. Niemand
spricht ihn an, weil alle fürchten, dass ihn das zu sehr
anstrengen könnte. Ich bemühe mich, nicht direkt zu ihm
hinüberzusehen. Es zerreißt mir fast das Herz, denn ich
würde ihm gerne jetzt das zuteilwerden lassen, was er den Menschen
so großzügig geschenkt hat. Trost, Zuversicht, eine
Umarmung, einen Händedruck, mein Mitgefühl, ein Wort, dessen
Bedeutung man in so einem Moment erst richtig erfasst.
Er sitzt gebeugt, keine Klage, keine Ungeduld, kein Schmerzenslaut. Ich
hoffe, dass ihm sein Glaube hilft, bis zum Ende eins mit sich zu sein,
und dass seine Schmerzen nur so lange andauern, wie es unbedingt sein
muss.
„Herr Pfarrer, wir haben Sie nicht vergessen“, ruft die
Sprechstundenassistentin und bittet ihn ins Sprechzimmer. Er antwortet:
„Das macht nichts, alles gut“, und wieder spüre ich Tränen,
die ich unterdrücke, denn ich fühle mich nicht nur machtlos,
sondern bin auch sprachlos geblieben. Doch vielleicht gibt es noch die
Gelegenheit, „danke“ zu sagen. Nicht für irgendeine Hürde,
die wir zusammen genommen hätten (das kam nie vor), sondern
für seine Wärme und Selbstlosigkeit, die er so freigiebig und
reichlich hier verteilt hat.
Was bleibt, ist ein Gedanke, den der Pfarrer missbilligen würde.
Oder sogar müsste. Doch ich meine, dass sein Gott manchmal die
eine oder andere Fehlentscheidung trifft.
Lindow, 15.5.
Seitenscheitel
… ist eine verbotene kulturelle Aneignung, denn er wurde nicht in
Deutschland erfunden. Jemand sollte mal mit dem Bundespräsidenten
sprechen …
Lindow, 25.5.
Individuell
Sommertag, 28 Grad. Nicht zu dem nur 5 Minuten entfernten See laufen
und hineinspringen, sondern eine halbe Stunde mit dem Auto ins
Hallenbad fahren .
Lindow, 4.6.
Psychotaube
So weit ist es mit dem Leben auf dem Hinterhof gekommen. Wo früher
ein Baum stand, in dem im Frühjahr die Amseln nisteten und ihre
optimistischen Songs trällerten, hat sich nun zwischen ein paar
übriggebliebenen Sträuchern und einer Mülltonnenbatterie
eine Gang von Tauben niedergelassen, die nie zusammen, sondern immer
einzeln oder zu zweit anzutreffen sind. Man sieht sie nicht, aber man
hört sie. Eine ganz besonders, die offensichtlich 24 Stunden die
Stellung hält und in davon mindestens 18 immer dieselben Töne
von sich gibt. Ein Gemisch aus Krächzen und gutturalem Tiefton,
das nach zehn Minuten Aggressionsschübe auslöst. Ein gut
bestückter Waffenschrank taucht vor dem geistigen Auge des
Hinterhausbewohners auf, der diesen Tönen möglicherweise den
ganzen Tag ausgesetzt ist, und selbst die rückwärtigen
Fenster des Vorderhauses werden früh am Morgen schon
sorgfältig verschlossen.
Die Taube gehört sicher zum Standardinventar der Zersetzer wie
RTL, BILD, Instagram und Konsorten, die den Rest funktionierender
menschlicher Gehirnzellen lahmlegen sollen. Möglich ist auch der
Einsatz durch den Vermieter, der Mieter mit Altverträgen loswerden
will, um endlich so reich zu werden, wie es sich gehört.
In jedem Fall ist die Psychotaube eindeutig programmiert und man kann
nur hoffen, dass hier endlich mal einer durchdreht und das Vieh zur
Strecke bringt. Aber es ist zu befürchten, dass sich schnell
Ersatz einfindet. Oder ausgesetzt wird. Irgendwo hier im
Großstadtdschungel werden diese Viecher gezüchtet. Bei allem
Fortschritt der Technik gibt es immer noch genug Spezialisten, die
wissen, wie man Menschen ohne viel Aufwand in den Wahnsinn treibt.
Berlin, 14.6.
Therapie
Dreimal hatte er mit ganzer Kraft gegen die leere Mülltonne
getreten, die jetzt mitten auf dem Bürgersteig lag. Nun musste er
sich nur noch einreden, dass das hilfreich war, dann konnte er beruhigt
nach Hause gehen.
Berlin, 18.9.
Verschwörungstheorie
Der Weltuntergang kommt bestimmt. Glaubt bloß wieder keiner.
Berlin, 19.9.
Einleuchtend
Eine unauffällige Frau um die 50 steht an der
Fußgängerampel und sagt deutlich zu jedem Radfahrer, der auf
der Straße an ihr vorbeifährt: „Du siehst scheiße aus.“
Keine Reaktion, niemand hält an oder sagt im Vorbeifahren ein
Wort. Das teile ich ihr mit. Sie: „Dann werden es wohl alle schon
wissen.“ Einleuchtend. Ich überquere die Ampel bei Grünlicht.
Berlin, 26.10.
Beat
Bis vor ein paar Jahren waren es die Ghettoblaster, deren Geschepper
mir auf den Sack ging. Am schlimmsten waren die Aluminiumdinger, wo
jeder Kunststoffpartikel vibrierte. Ich nannte sie „Zahnputzbecher“.
Heute gibt es die Blue-Tooth-Röhren, die jeder Erstklässler
in verschiedenen Größen am oder neben dem Körper
spazieren trägt. Die Dinger sind noch lauter und haben einen
Gleichklang, denn es ist kein herkömmliches Soundsystem, das sich
direkt aus einer Quelle speist (Plattenspieler, Radio). Dem Hörer
wird etwas vorgegaukelt, denn was er hört, sind keine O-Töne,
sondern gebündelte Schallwellen, die von externen Geräten
(Smartphone, MP3) übertragen werden. Also keinen direkten
Weg von A nach B nehmen, sondern verfremdet aus den Lautsprechern
kommen. Da kann deren Qualität noch so gut sein, es bleibt
synthetisch.
Eigentlich gar nicht wichtig, ob man das versteht, es klingt jedenfalls
beschissen, und ganz besonders, wenn nur zwei Regler betätigt
werden: Lautstärke und Bass.
Wie an der Bushaltestelle am Marktplatz, als sich eine vielleicht
14-jährige, übergewichtige Pubertätspausbacke neben mich
setzt und das mittelgroße Rohr, das bisher über seiner
Schulter baumelte, ablegt. Mindestens Lautstärke 8, etwa
Laubbläser also. Dazu ein gnadenloser Beat. Bestes
Guantanamo-Equipment.
Ich schaue ihn an, zeige auf die Röhre und mache das Zeichen des
Kehledurchschneidens. Er blickt sich kurz nach allen Seiten um, ob
Verstärkung unterwegs ist, aber kein Bro in Sicht. Dann fängt
er mutig an: „Was 'n los? Geiler 180er, voll der Lori, Mann.“ Voll der
Lori, das habe ich noch nie gehört. Klingt geil, zugegeben.
Er hält mich wahrscheinlich schon für halbtot und ist dann
doch überrascht, dass ich was zu sagen habe: „Das ist kein 180er,
Digger, und der Sound ist scheiße. Außerdem ist das kein
Break-Beat, da kriegst du noch nicht mal 'nen anständigen
Turnaround hin. Und deine Hardware ist auch scheiße, klingt, als
wäre dein Treble in Urlaub und der Equalizer auf 'ner Beerdigung.
Wenn du mich fragst“, ich nicke kurz voller Verachtung in Richtung
Röhre, „ist das der billigste Bullshit, den man sich anschaffen
kann. Für die Tonne. Da würd' ich noch nicht mal leere
Pizzaschachteln drin sammeln. TIA.“ Ich drehe mich weg und mache noch
eine lässige Wegwerfbewegung. Pausbacke ist ganz ruhig. Nach einer
Minute fragt er: „TIA?“ Ich schaue ihn nochmal genervt an und sage:
„Throw it away.“
Er bleibt noch einen Moment ganz ruhig sitzen, dann steht er auf, packt
sein Zeug (Röhre in die Plastiktüte) zusammen und
verschwindet.
Ganz sicher: Es war kein 180er-Beat.
Lindow, 25.11.
Tageswörter
Titel des Buches eines unbekannten Autors, der es originell fand, jeden
Tag ein Wort auszuwählen und irgendetwas dazu zu schreiben, ein
ganzes Jahr lang. Der Mann hatte offensichtlich viel Zeit oder
Langeweile. Oder beides. Vielleicht aber auch nicht alle Tassen im
Schrank.
Lindow, 2.12.
Wunsch
Telefonanruf bei einer Zeitschrift, die ich abonniere. Angenehmer
Sofortkontakt mit einer Dame ohne vorherige Computeranfrage. Es geht
nur um eine Adressänderung und sie hat jetzt nach Weihnachten
offensichtlich Zeit für einen Smalltalk. Wahrscheinlich hat sie in
den letzten drei Tagen in der Familie kein unterhaltsames Gespräch
führen können. Am Schluss gebe ich noch einmal meine neue
Adresse durch. Sie: „Da wäre ich jetzt auch gerne.“ Ich:
„Nächstes Jahr auf den Wunschzettel schreiben!“ Ohne die Familie
klappt das, dachte ich noch, und wünschte ihr ein gesundes neues
Jahr.
Lindow, 27.12.
Silvester
Peng! Bumm! Ende!
Lindow, 31.12.
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