NUR EINE MINUTE
„Nur eine
Minute“, hatte der Mann am anderen Ende der Leitung gesagt. Eine
schnarrende Stimme, weder höflich noch mürrisch. Ich hatte
nicht auf die Uhr geschaut und hoffte, dass sie nicht die kleine
Nachtmusik einspielten.
„Hören Sie“, die Stimme schnarrte wieder, „das kann ich Ihnen auf
die Schnelle nicht sagen.“
„Was können Sie mir nicht sagen?“
„Warum Sie von uns Post bekommen haben.“ Jetzt raspelte die Stimme.
„Aber deswegen rufe ich doch an. Wenn Sie mir nicht sagen können,
warum Sie mir geschrieben haben, wer denn dann?“
Die Stimme, ungehalten: „Das kann ich Ihnen ohne weitere Recherche
nicht sagen.“
Die Angelegenheit wurde unübersichtlich. „Aber warum steht denn
hier, ich soll Sie anrufen?“
„Das weiß ich nicht, ich habe keinen Einblick in die Unterlagen.“
„Sie haben keinen Einblick in die Unterlagen? Aber was haben Sie denn
die ganze Zeit gemacht, in der ich gewartet habe?“ Kurze Pause am
anderen Ende.
„Wie gewartet? Wann haben Sie gewartet?“
„Na eben, als Sie gesagt haben, dass Sie eine Minute weg sind.“
„Da habe ich versucht, Ihren Vorgang auf den Bildschirm zu bekommen.“
Es schien noch komplizierter zu werden.
„Weil ich einen Brief bekommen habe, in dem Sie mich um einen
Rückruf bitten, müssen Sie einen Vorgang auf einen Bildschirm
bekommen? Bin ich im Fernsehen?“ Kurzes Schnaufen am anderen Ende,
dann: „Hören Sie mal, wollen Sie mich verarschen? Ich versuche den
Grund unseres Schreibens zu ermitteln und warum Sie zurückrufen
sollen. Das müsste am Computer ersichtlich sein.“
„Hören Sie, ich weiß ja nicht, was Sie so den ganzen Tag
treiben, aber mir fehlt gerade ein wenig die Zeit, um mit Ihnen zu
spielen oder fernzusehen, also, was machen wir denn jetzt?“ Die Stimme
am anderen Ende machte wieder Pause. Im Hintergrund war das Gemurmel
anderer Stimmen zu hören, dann ein hastiges Klicken und ich wollte
schon auflegen, da knarzte es wieder, diesmal zögerlich, aber hoch
konzentriert:
„Ich habe das jetzt notiert. Man wird die Sache prüfen und sich
dann mit Ihnen in Verbindung setzen.“
„Welche Sache wird man prüfen?“
„Na, den Grund Ihres Anrufs.“ Langsam hatte ich den Eindruck, dass mein
Gegenüber am Telefon ein ganz klein wenig uneinsichtig war. „Der
Grund meines Anrufs“, ich bemühte mich deutlich zu reden, „ist
herauszufinden, warum Sie mir einen Brief schicken und mich um einen
Anruf bitten.“ Ich weiß nicht, ob der Mann nachdachte, aber es
folgte wieder eine längere Pause. Warum zauderte er? Warum sagte
er nichts? „Hallo, sind Sie noch da?“. Es folgte ein kurzes Zischen,
dann schnell und ungeduldig:
„Natürlich bin ich noch da und ganz ehrlich“, die Stimme wurde
leiser mit einem bedrohlichen Unterton: „Ich weiß nicht, was Sie
von mir wollen.“ Das war jetzt dreist, ich antwortete sofort: „Ich will
von Ihnen gar nichts. Sie wollen etwas von mir. Dass ich Sie anrufe
nämlich. Das habe ich hier schwarz auf weiß. Und bevor ich
Sie angerufen habe, war dieser Tag noch hundert Prozent akzeptabel,
mein Bester.“ Durch den Hörer glaubte ich eine Art Summen zu
hören, wie einen Wasserkessel auf einer Gasflamme. Dann wieder die
Stimme: „Ich denke doch, dass ich mich klar ausgedrückt habe. Ich
kann Ihren Vorgang auf dem Computer nicht abrufen, deswegen fehlt mir
auch die Grundlage, mit Ihnen über Ihr Anliegen zu sprechen.“ Das
wurde immer besser. Ich spürte eine noch nicht identifizierbare
Körperreaktion.
„Ich habe kein Anliegen“, ich wollte mich bemühen, diese
Angelegenheit ganz ruhig zu Ende zu bringen. „Sie haben ein Anliegen
und das wäre, dass ich zurückrufe und dieses Anliegen erfahre
oder was auch immer. Ich habe Ihnen gesagt, wie ich heiße und wie
Ihr Brief aussieht, also, was, bitte schön, hat denn ein
unschuldiger Computer damit zu tun?“ Der Tonfall meines Telefonpartners
wurde jetzt irgendwie unsachlich:
„Sagen Sie mal, sind Sie so ...“ Ich hörte genau, wie er etwas
Gemeines oder Unverschämtes sagen wollte, aber er besann sich wohl
auf seine Ausbildung, man konnte deutlich die Bremse seines Motors
hören. „Sind Sie so weltfremd oder tun Sie nur so. Ich finde Ihren
Vorgang nicht im Computer, möglicherweise ist er zu speichern
versäumt worden.“
„Aber Sie haben mir doch geschrieben, hier, hab' ich doch vor mir. Im
Übrigen, Sie haben vergessen zu unterschreiben, wie heißen
Sie eigentlich?“
„Mein Name ist Franke und ich habe Ihnen den Brief nicht geschrieben,
das ist ein Computerbrief, da gibt es keine Unterschrift.“ Das war mal
wieder typisch. Wenn irgend etwas schiefgeht, wird die Schuld anderen
zugeschoben.
„Herr Franke, jetzt wollen Sie mich aber auf den Arm nehmen. Sie wollen
mir erzählen, der Computer hätte sich mal einfach so
entschlossen, vielleicht weil es geregnet hat oder er Langeweile hatte,
mir, ausgerechnet mir, einen Brief zu schreiben. Damit ich bei Ihnen
anrufe und ein wenig mit Ihnen plaudere. Wollen Sie mir das jetzt hier
erzählen, lieber Herr Franke?“. Ich hatte den Eindruck, dass man
diese Sache auf einen Punkt bringen musste. Mein Gegenüber
brauchte wieder einen Moment, um sich auf diese Situation einzustellen.
„Natürlich ist das nicht so, sagen Sie, lassen Sie ein Tonband
mitlaufen, sind Sie von einer dieser Witzsendungen, die immer im Radio
laufen, in denen unbescholtene Bürger zur Schnecke gemacht werden?“
Ich musste mich vorsehen, ich kannte meinen Körper. Mein Arzt
hatte mir mal gesagt, dass bestimmte Reaktionen in meinem Alter
unvorteilhaft sein könnten. Seitdem achte ich darauf, wenn sich
meine Härchen auf den Armen aufstellen. Das signalisiert meistens
eine Veränderung meines Blutdrucks.
„Herr Franke, mit Verlaub, spinnen Sie? Ich rufe bei Ihnen an, um zu
erfahren, was Sie von mir wollen, und Sie fragen mich hier allen
Ernstes, ob ich zur Besatzung einer Ihrer offensichtlich oft
gehörten Radiosendungen gehöre?“
„Das sagen Sie doch jetzt im Spaß, so ahnungslos wie Sie kann man
doch gar nicht sein.“
Jetzt war der Punkt erreicht, die Sache wurde persönlich. Der
Blutdruck spürbar. Das ärgerte mich. Ich versuchte mich zu
beherrschen. Mein Vater hatte mir beigebracht, dass man dem Chaos im
Leben immer mit einer gewissen Ruhe und Gelassenheit
gegenübertreten konnte. „Herr Franke, fassen wir doch mal
zusammen, was wir haben. Ich bekomme einen Brief von Ihnen, in dem Sie
um einen Rückruf bitten. Das ist ja erst mal ganz normal. Dann
kommen Sie. Sie erzählen mir, dass Sie nicht wissen, worum es
geht. Vielleicht auch noch irgendwie nachvollziehbar. Aber dann muss
ich auch feststellen, dass Sie während unseres Telefonats an
irgendeinem Computer spielen. Damit nicht genug, Sie fangen an mich zu
verhohnepiepeln und erzählen mir plötzlich, ich wäre ein
Vorgang und der würde gerade nicht in ihrem Computerspiel
auftauchen. Ich muss mich von Ihnen als weltfremd beschimpfen lassen
und zu guter Letzt quatschen Sie mich mit irgendeinem Mist voll, den
Sie sich im Radio reinziehen. Herr Franke, mal ernsthaft, als was
arbeiten Sie denn eigentlich? Kriegen Sie Geld dafür oder
sind Sie nur ein gefrusteter Hartz IV-Empfänger, dem
langweilig ist und der ein bisschen Spaß haben will. Oder haben
Sie ein Problem? Sind Sie einsam und haben niemanden, mit dem Sie
sprechen können? Aber das kann man doch anders angehen, da muss
man doch nicht so eine Nummer abziehen.“ Ich hatte mich wieder etwas
beruhigt. Vielleicht war es das. Ich hatte möglicherweise einen
Volltreffer gelandet. Der Mann war verzweifelt und sendete kleine
Signale. Briefe mit der Bitte um Rückruf. Die letzte Chance, sich
mitzuteilen. Wie verzweifelt war der Mann? „Herr Franke, sind Sie noch
da?“
Ziemlich leise war seine Stimme, da war nichts mehr von Schnarren oder
Knarzen. Es war schon ein kleines Wimmern, das mitschwang. Der arme
Mann, er hatte wahrscheinlich jede Menge emotionales Brackwasser in der
Seele.
„Ich habe Ihnen diesen Brief nicht geschrieben. Sie haben hier ein
Callcenter angerufen. Der Brief wurde von der Fachabteilung per
Computer an Sie geschickt. Ich kann hier nur den Absendevermerk nicht
abrufen. So ist das.“
Das war jetzt sehr enttäuschend. Da tat man alles, um einem
Unbekannten zu helfen. Es war ja noch nicht mal Weihnachten. Und dann
macht der einen Rückzieher. Gibt sich erst solche Mühe, um
ins Gespräch zu kommen. Ist praktisch schon am Ziel, denn mehr als
meine Gesprächsbereitschaft konnte ich nicht anbieten. Dann kommt
er mit einem abwegigen Blödsinn und verweigert sich.
„Herr Franke, ich bin schon ein wenig enttäuscht von Ihnen. Was
habe ich Ihnen getan? Ich habe versucht, Ihnen mitzuteilen, dass Sie
mit mir reden können. Sie werden Ihren Grund haben, Ihre Seele im
Rahmen eines anonymen Telefonats erleichtern zu wollen, aber in Gottes
Namen machen Sie das doch auch und flüchten Sie sich nicht wieder
in ein Konstrukt von Vermeidungsstrategien. Das haben Sie nicht
nötig, ich habe Ihren Hilferuf verstanden. Hier ist ein Mensch,
dem Sie vertrauen können“. Schweigen am anderen Ende. Dann, noch
zaghafter:
„Ich gebe Ihnen jetzt mal die Durchwahl der Fachabteilung, da
können Sie mit dem zuständigen Sachbearbeiter sprechen.“
Gut, man kann niemanden zwingen. Schon mein Opa sagte, der
größte Feind des Menschen ist seine eigene Courage. Oder so
ähnlich.
„Herr Franke, ich lege jetzt auf. Sie hatten Ihre Chance. Wenn Sie es
sich anders überlegen, Sie haben ja meine Nummer. Wir können
uns auch gerne auf einen Kaffee treffen, wenn Ihnen das lieber ist.“
„Ich gebe Ihnen die Nummer ...“
„Herr Franke, noch was. Nur eine Minute.“
„Wie bitte?“
„Sie sagten eingangs: Nur eine Minute. Das waren jetzt zwanzig.“
Mit einem sanften Klicken wurde die Verbindung unterbrochen.
zurück
TOTER
HUND
„Der liegt da,
der ist tot!“
Schrilles Gekeife im ältesten Mietshaus der Straße,
aufgeschreckt knirscht das Holz der Flurfensterrahmen,
der Geruch von gedünstetem Rindfleisch
und kurzgebratenem Schwein
weht durch die rissigen Mauerspalten,
neugierige Winde, die sich in den Stockwerken verirren,
ändern ihre Richtung im Sekundentakt,
fast, als wären sie auf der Flucht,
raus aus dem Notquartier unerfüllter Hoffnung,
zentimeterdick verkrustet auf jedem Treppenaufsatz.
„Wer ist tot, scheißenochmal?“
„Der Köter vom alten Plenz
und jetzt liegt er oben neben der Dachbodentür,
der muss weg, da holt man sich ja die Seuche.“
Türenklappern, Türenschlagen auf fast jedem Stockwerk,
der Hund vom alten Plenz, ob der das schon weiß,
der alte Plenz, selbst fast schon tot,
den Schlag wird er nicht verkraften.
„Wieder eine Wohnung leer“,
wird man mit dem üblichen Achselzucken sagen,
wenn die Bewohner sterben, stirbt das Haus,
wenn’s nicht schon tot ist,
wenn nicht alle hier schon tot sind,
nur noch eine Frage der Zeit,
hier will keiner mehr so richtig,
übrig geblieben, vergessen worden,
aufgegeben, abgeschrieben,
durch den Rost gefallen,
in der richtigen Gegend,
im richtigen Haus,
der richtigen Straße,
der richtigen Gesellschaft.
Gut zusammengetrieben das Ganze,
besser kontrollierbar, es riecht nach Ghetto.
„Der Köter muss da weg“,
hallt es im Hausflur,
nachdrücklich beim ersten, verhalten beim letzten Mal.
Eine zugeschlagene Tür
schickt neuen Duft nach unten,
Tod, mit ein bisschen Ekel,
irgendwo ein leises Wimmern,
vielleicht Trauer oder einfach nur
Verzweiflung über einen fehlenden Vollrausch,
zusammengekauert in irgendeiner Ecke,
unentdeckt, ignoriert und ein wenig verachtet
von denen, die vorbeilaufen.
Im Erdgeschoss, links vom schwarzen Brett,
ein Hinweisschild: „Rattengift verstreut!“
Der Hund vom Plenz liegt tot da oben,
könnte ja mal jemand zum Plenz gehen.
zurück
KOFFERPACKEN
Der leere Koffer
auf dem Bett
gähnt mit gierig aufgerissenen Maul.
Er glotzt mich an, als wolle er sagen:
„Mach' schon, her mit dem Futter,
denkst du, mir gefällt das, weg von meinem Lager
auf dem Schrank und raus bei Wind und Wetter?“
Ich füttere ihn lustlos mit irgendwelchem Zeug.
Latschen, Hose, T-Shirts, ein paar Hemden.
Dann Pause. Er drängelt: „Werd' fertig“.
Jacke, Regenschirm, Bücher, Waschzeug.
Sein Rachen ist voll. Er kriegt kaum noch Luft.
„Kein System“, ächzt er, „du bist eine Schlampe.“
Ich sitze neben ihm und rauche eine Zigarette.
Ich will gar nicht weg, will nicht reisen.
Den Koffer will ich auch nicht packen.
Ich klappe den Deckel zu. Es geht nicht.
Die obere Schicht federt ihn zurück. Ich packe um.
Ein paar Bücher obendrauf und ein Handtuch
zum Zusammenpressen. Fertig.
Der Koffer lässt die Scharniere protestieren. Er regt sich auf.
„Unprofessionell gepackt. Zu sperrig. Wenn die bei der
Gepäckannahme wieder Weitwurf mit mir üben,
springe ich auf und verteile den ganzen Scheiß in der Halle.“
Die Scharniere werden mit Gewalt zum Schweigen gebracht.
Auf die Waage. Zu schwer. Aufmachen.
Ein paar Bücher fliegen auf das Bett. Zumachen.
Ich will nicht mehr soviel reisen. Zu alt dafür.
Der Koffer auch. Besser ist es,
zu Hause gemütlich auf dem Sofa zu liegen.
Der Mensch ist nicht als Vagabund geboren.
Sesshaft soll er sein, sich eine Höhle suchen,
einen kleinen Vorgarten bauen. Nicht reisen.
Meint der Koffer auch. Er ist auch alt.
Will seinen Gnadenstaub auf dem Kleiderschrank.
Und: „Noch einen Scheiß-Aufkleber auf meiner Haut
und ich falle auseinander. Nimm' das ernst!“
Abfahrt. Nehmen wir den Nörgler mit.
Der hat's doch gut, wird getragen.
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