ERDBESTATTUNG

Es ist abzuschätzen, dass man ihn nicht abschätzen kann, den endgültigen Knipser am Schalter, den letzten Abgang, den finalen Röchler. Aber das ist das Gute am Leben, du weißt nicht, wann Schluss ist. Das Schlechte am Leben sind Sätze wie "Du hast dein Leben noch vor dir", "Jetzt fängt das Leben erst an" oder "Freu' dich auf die zweite Hälfte". Gewäsch.
Und dann liegt man da, in einer Kiste, 1,50 m unterm Meeresspiegel, und denkt, dass man das so nicht gewollt hat. Jawohl, man denkt. Das passiert, wenn man nicht verbrannt wird. Das passiert bei so einer Erdbestattung. Ich hatte die nicht gewollt, aber tu' was dagegen, wenn du tot bist. Bei einer Erdbestattung nämlich wird dir eine letzte Schikane verpasst, irgendwer setzt dir in deinen maroden Körper einen Knopf ein, damit du die letzte Party noch miterleben musst. Trotz Sargdeckel hörst du alles, was an deinem Grab gesprochen wird, und du kannst noch alles und jeden sehen.
Oder was glaubt ihr, warum man im Totenschiffchen auf dem Rücken liegt? Letzte Folter vor dem Fegefeuer. Ich muss mir das Gelabere von einem Prediger anhören, den ich nicht kenne und der mich nicht gekannt hat. Der erzählt gegen Bezahlung, was ich für ein wertvoller und kreativer Mensch war. Der hat nicht einen Song von mir gehört, nicht einen Text von mir gelesen. Ich war auch nicht wertvoll, ich war pleite, ein Arschloch, die Hälfte meines Lebens besoffen, habe gelogen, bin den Leuten auf die Nerven gegangen und habe an der Ostsee in die Dünen gepinkelt. Ich hinterlasse auch keine Lücke, denn ich habe keine Rentenversicherung bezahlt und keines meiner Bücher hat einen Verleger dazu gebracht, ein neues herausbringen zu wollen. Ich habe keine Kinder gezeugt, kein Leben gerettet und bin auch nicht Weltmeister in irgendetwas geworden. Lücke? Was für 'ne Lücke? Und wenn du dieses unerträgliche Bündel von Halbwahrheiten aus der sabbernden Körperöffnung dieses Verbalverbrechers hinter dir hast, dann geht es noch weiter. Dann kommt die Prozession der Abschiednehmenden, die Endkontrolle, ob du denn wirklich das Gras im Maul hast, in das du gebissen hast. Du musst sie alle nochmal ansehen, wenn sie sich über das letzte Hotelzimmer beugen - gemeine Erdbestattung - du musst sie ansehen, du musst hören, was sie dir zuflüstern, und du kannst nicht antworten, obwohl es dich nochmal zerreißen will. Dann lassen sie ein Schippchen Erde auf dich hinunterplumpsen und nicht wenige sind dabei, die dich dein ganzes Leben mit Scheiße beworfen haben.
Zuerst kommen die Gesichter, die du nicht kennst, wahrscheinlich Berufsfriedhofsgänger, die überall dabei sind und darauf spekulieren, dass in der nächsten Kneipe noch ein Bier abfällt. Die werfen Schnittblumen, die sie vorher von einem anderen frischen Grab geklaut haben, ziehen eine Schnute und murmeln ungefragt: "Ja, ich habe ihn 1970 das letzte Mal zur Kirchweih meiner Tochter gesehen". Egal, ob du da erst 10 Jahre alt warst.
Dann kommen die Mutigen, deren Versprechungen mir immer noch in den Ohren klingen: "Ja, wir machen dies und das, wir melden uns, du kriegst Bescheid, kannst dich darauf verlassen", dann die, die sich einfach nur vergewissern wollen, dass sie ihre Schulden nicht zurückzahlen müssen, Schulden, die unter guten Kumpels und mit Ehrenwort gemacht wurden, Schulden, die einen gewissen Anteil daran hatten, sich jetzt dieser Tortur aussetzen zu müssen.
Dann kommen die Geschäftemacher und Abzocker, die auch nur mal nachsehen, deren Schippchenschwung jedoch etwas heiterer ausfällt und die die Trauergemeinde schnell verlassen, damit man ihr Lächeln nicht sieht.Dann kommen die mit den betroffenen Mienen, deren Sätze zu diesem Anlass mit den Worten "wenn", "hätte" und "würde" anfangen, die beugen sich etwas länger über das Grab und das Schippchen mit der Erde will nicht so recht nach unten zeigen. In ihre Gesichter steht Angst geschrieben, auf der Stirn steht Schweiß. Sie fürchten den Tod nicht, nur die Schnelligkeit, mit dem sie von ihm eingeholt werden können. Man sieht's in ihren Augen, wenn sie hier so herunterschauen, dass sie nicht gut damit leben. Dann kommen die, die nicht da sind. Das sind mir die Liebsten. Menschen, mit denen ich so manche Nacht verquatscht habe, auf der Suche nach etwas Großem, Besserem, nach Sinn. Frauen, die mich manchmal für Minuten nur geliebt haben, Wärme abgaben, um den Tod noch ein wenig zu vertrösten. Zecher, mit denen ich tage-und nächtelang versucht habe, den Rausch des Lebens zu kriegen und die jetzt schwei- gend in einer Kneipe sitzen, um mir zuzuprosten. Dann kommt eine Handvoll Getreuer, meine Freunde, die mich mein Leben lang begleiteten, die einzigen, bei denen sich der Prediger hätte einen Rat holen können, um nicht soviel Murks zu reden. Es tut mir weh, es ist das Einzige in dieser verkorsten Situation, das mir wehtut, ich kann kein einziges Wort mehr sagen, aber vielleicht ist es auch besser so, wir haben verdammt viel erlebt, so viel gesprochen, da fangen wir jetzt nicht von vorne an, passt nur auf die Letzte auf, die sich vor die Hütte stellt, denn meine Frau soll nicht mehr weinen, als ich hier unten ertragen kann. Am besten gar nicht, denn ich muss noch soviel Dank und Verzeihung denken, dass zwischen uns keine Barriere irgendeiner Art sein darf. Und wenn mir das gelingt, muss ich noch los- werden: "Das nächste Mal bitte keine Erdbestattung!"
Es ist ja immer noch nicht alles, es kommt noch die letzte Enttäuschung, die Abschlussmusik und das finale Desaster, denn auf städtischen Friedhöfen darf nicht Motörhead gespielt werden. Was haben wir denn Schönes statt dessen? Au ja, "Take it easy" von den Eagles. Vergebt mir, ich habe gesündigt.
Aber jetzt die große Ruhe. Ich sollte mich langsam auf die letzte Prozedur vorbereiten, die Abrechnung. Der Knopf wird aus mir herausgedreht werden und dann kommt die finale Auseinandersetzung mit diesem Leben, ich denke, das wird eine ganze Menge Zeit in Anspruch nehmen. Aber die hab' ich ja jetzt.
Da kommen ja die Totengräber, auch ein Scheißjob, immer so trist und...ey, was soll das denn, schmeißt dieser Penner doch eine Bananenschale in meine Grube. Pietätlose Zangengeburt. Also jetzt würde ich mich gerne mal umdrehen...

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VOR  DEN  WELLEN

Vor den Wellen
würde ich gerne ankommen,
um festzustellen,
ob man auf dem Sand am Strand
fest auf den Füßen stehen kann
oder ob die Strömung
mich mal in diese
oder in die andere Richtung zieht.
Ich würde gerne vorher sehen können,
ob mich der Sog
dahin führt,
wo ich hergekommen bin,
oder in eine neue Richtung zwingt.
Manchmal,
ich geb' es zu,
würde ich gerne mehr wissen,
bevor die Wellen kommen.

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BUßE  TUN

"Ah nein, nein, es ist nicht die Leber", der Blick meines Lieblingswirts war die Mischung aus besorgt, interessiert, fassungslos und neugierig. Die sanfte Seite meines Gemüts wartete die Frage gar nicht erst ab, als ich mein drittes Mineralwasser bestellte.
"Ich hatte vor zwei Wochen einen Hexenschuß. Das waren Schmerzen, die ich vorher noch nicht kannte. Dazu kamen Visionen, die allesamt auf dem OP-Tisch endeten. Bandscheibenvorfall und so. Nach fünf Tagen war aber alles vorbei und die chronisch Bandscheibengeschädigten haben alle gemeint, dass ich da noch Glück gehabt hätte, denn normalerweise würde so eine Sache mindestens zehn Tage dauern, na, und da habe ich mir gesagt, das ist vielleicht ein Zeichen von oben und ich müsste irgendwie meine Dankbarkeit zeigen und beschloss eine temporäre Abstinenz. Also,sonst geht's mir gut."
"Verstehe", mein Wirt bemühte sich um einen neutralen Tonfall,"so was wie Buße tun. Na, dann überleg' mal...ach, schon gut!" Er winkte ab.
Als ich von der Toilette kam, hörte ich ihn aber doch noch zu meiner Begleiterin sagen:"...hat denn die Bandscheibe mit Alkohol zu tun. Dem fällt doch nichts ein, wenn er seine gequälte Leber beruhigen muß."
Interessante Problematik. Ich könnte ihr anbieten, das Rauchen aufzugeben.

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Copyright für alle Texte by Jörg Reinhardt