PATRONA
DELLA CASA
Die Tür zur Toilette
schlug so heftig zu, dass es einen Nachhall vom ersten Stock bis zum Erdgeschoss
des kleinen Hotels am Lago di Lugano gab, der zwar niemanden störte,
aber dennoch eine Unterbrechung der abendlichen Stille des kleinen Ortes
Ponte-Tresa an der italienisch-schweizerischen Grenze provozieren konnte.
Ein Ort, dessen Unscheinbarkeit mit kleinen Farbtupfern versehen war, die
sich augenscheinlich bei Nacht in den Lichtern des Sees widerspiegelten
und tagsüber im Geheimen nur für Eingeweihte zu sehen waren.
Der Grund des Besuches in
diesem Ort war recht einfach. Er lag kurz vor dem Reiseziel Mailand und
war für den müden Fahrer eine Entspannung vor der Tour de Force
in Mailands Berufsverkehr. Die Wahl des kleinen Hotels ging auf eine Empfehlung
einer Kollegin zurück, die in diesem Ort gearbeitet hatte und deren
Urteil man blind vertrauen konnte. Und so war es denn auch nur ein Aufenthalt
von einer Nacht, dem ein Essen mit anschließendem Schoppen Rotwein
in einer Pizzeria vorausging, dann der Weg ins Hotel in Erwartung eines
erholsamen Schlafes.
Es hätte keiner besonderen
Erwähnung dieser Belanglosigkeit bedurft, wenn nicht dem Reisenden
auf dem Weg zu einem Zimmer mit Blick auf den See die patrona della casa
begegnet wäre, deren mehr unbeteiligte als enthusiastische Art, dem
Gast eine gute Nacht zu wünschen, auffiel. Mehr aus Freundlichkeit
als aus Bedarf an einem Gespräch ergab sich ein Wortwechsel recht
banaler Art. Doch der Blick in das Gesicht der Frau erweckte Neugierde;
ihre Erfahrungen aus über zwanzig Jahren Präsenz an diesem Ort,
den sie nie als Heimat bezeichnete, ließen ihre Augen lauter sprechen
als die Seele. Kurze fahrige Bewegungen ihrer Hände unterstützten
Verluste, über die sie nicht sprach, und Gefühle, derer sie zwar
noch habhaft, aber nicht mehr sicher war. Erinnerungen, die sie noch zu
haben vorgab, wechselten mit sich immer wiederholenden Gesten, die eine
Resignation zeigten, die abgrundtief, aber nicht lebensbedrohlich war.
Und während sie noch höflich sprach, um Daten aus der Vergangenheit
abzurufen, spürte er ihre Müdigkeit und hatte das Gefühl,
es würde nicht besser werden, wenn er hier am unaufgeräumten
Tresen einer kleinen Pension in Ponte-Tresa stünde und so täte,
als wäre es alles interessant, was man gerade hört. So gab es
denn in beiderseitigen Einvernehmen den nochmaligen Wunsch nach einer guten
Nacht.
Den Weg in den ersten Stock
erledigte der Reisende zwischen Gleichgültigkeit und Betroffenheit,
der Weg in das Badezimmer mit Toilette diente nur der flüchtigen Notdurft
und nicht der geplanten Dusche. Und beim Verlassen dieser Örtlichkeit
schlug die Tür zu, und der Reisende bekam ein schlechtes Gewissen,
wusste er doch, dass sich
die patrona della casa schon vorher schlafen gelegt hatte.
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DER
LEICHENKÖNIG
Er war ein Durchschnittstyp,
eher einer von den ruhigen,
ziemlich intelligent,
so manches Mal betrunken,
dann wurde er lauter,
aber niemals unangenehm.
Er schrieb für eine
Tageszeitung,
Lokalteil und Verbandsnachrichten.
Meistens ging er nachts
durch die Kneipen,
wann er nun genau arbeitete,
wusste niemand,
und ob er wirklich davon
leben konnte,
ist auch nicht bekannt.
Wahrscheinlich gab es da
noch etwas anderes,
Erbschaft oder so,
bei diesen Typen weiß
man ja nie.
Er war ein Durchschnittstyp,
nur eine Sache machte ihn
etwas anders.
Wenn er morgens nach durchzechter
Nacht
in irgendeine 24 Stunden
Kneipe ging,
um den Kaffee zu trinken,
der ihn nach Hause bringen
sollte,
war er es immer,
der die Aussteiger und Verlierer
auf dem Klo fand.
Im Schnitt drei pro Jahr.
Es war wie verhext,
aber er hielt die Bestmarke
im Totefinden.
Deswegen nannten ihn alle
den Leichenkönig.
Ich hatte ihn nie darüber
reden hören,
er war nie schockiert,
wenn man ihn darauf ansprach.
Nur als ich ihm erzählte,
wie er genannt wurde,
zuckte er kurz zusammen.
Doch ein kleines unscheinbares
Lächeln,
das die Mundwinkel ganz
knapp nach oben zog,
signalisierte,
dass er es wusste.
Es schien,
als hätte er seinen
eigenen Tod schon gesehen.
Er starb vor etwa fünf
Wochen.
Nicht in der Kneipe,
nicht auf der Straße,
nein,
er starb zu Hause.
Gestern hat man ihn gefunden.
Es war nicht mehr viel übrig
vom Leichenkönig.
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Copyright für alle Texte by Jörg
Reinhardt
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