STRANDLIEGE  1207

Das ist es nun,
das Ende!
Nach zehn Jahren schwitzen in der Sonne
undankbar
In einen Abstellraum geworfen,
fertig zum Abtransport,
fertig zur Exekution.
Sicher,
zum Schluss schon
ein laut vernehmliches Knarren
im morschen Holz,
wenn sich ein schwitzender
Fettarsch auf den Lattenrost warf,
aber wer denkt schon daran,
daß eine Strandliege
keinen Tarifvertrag hat,
keine Lobby,
keine Gewerkschaft,
keine geregelte Arbeitsziet
und gleich mehrere Jobs abdeckt?
Sie ist die billigste Hure,
mehrmals am Tag
wechselnder Geschlechtsverkehr
und 100% für den Zuhälter.
Als Geheimnisträger unbezahlbar,
nicht auszudenken,
wenn Strandliegen reden könnten!
Sanitäter –
erste Hilfe,
immer werden vom Hitzschlag
oder Vollrausch
oder von Lebensmittelvergiftung Bedrohte
auf die Strandliege gelegt.
Als Sonnenschutzmittelidentifikator –
wetten dass –
Strandliege 1207
unter 1233 verschiedenen Sonnenschutzmitteln
1232 am Geruch erkennt?
Es ist ungerecht,
es gibt kein Gnadenbrot für Strandliege 1207.
Nur den Kalfaktor,
der eine zehnjährige Geschichte
einfach so
dem Scheiterhaufen zuführt.

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DER  SÄNGER  KOMMT NICHT  MEHR

Er kam jedes Jahr
an das Grab seiner Eltern,
immer am Heiligabend,
mittags um 12 Uhr.
Er packte seine Gitarre aus
und sang ein Weihnachtslied,
jedes Jahr ein anderes.
Danach spielte er noch eines
von seinen eigenen Liedern.
Er packte die Gitarre wieder ein
und stand noch etwa zwei Minuten am Grab.
Dann ging er.

Im Laufe der Jahre fanden sich am Heiligabend
immer mehr Leute an diesem Grab ein
und sangen mit dem Sänger sein Weihnachtslied.
Im zehnten Jahr kam sogar der Gemeindepfarrer
und als der Sänger schon längst gegangen war
standen die Leute in stiller Andacht
am Grab seiner Eltern.

Im elften Jahr kamen zwar die Leute,
der Sänger aber nicht.
Doch keiner fragte,
sie sangen ihr Weihnachtslied.
Dies wiederholte sich im zwölften
und im dreizehnten Jahr.

Im vierzehnten Jahr schauten sich die Leute
nach dem Singen des Weihnachtsliedes an
und der Pfarrer brachte es auf den Punkt:
„Der Sänger kommt nicht mehr.“

Am nächsten Tag
war das Grab der Eltern des Sängers
über und über mit Blumen bedeckt
und manche Träne fiel auf den gefrorenen Boden.

Es ist wie im Märchen.
Jedes Jahr am Heiligabend
treffen sich auf einem Friedhof
mitten in Berlin
an einem bestimmten Grab
Leute,
die ein Weihnachtslied singen.

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Copyright für alle Texte by Jörg Reinhardt