ALLES  IM  KOPF

Wenn das jemand hören könnte.
Die Reden, die ich im Kopf habe,
die Gespräche, die ich mit Phantomen führe,
Manifeste, die ich entwerfe
und mit Vehemenz zur Theorie erhebe,
die Logik, um die ich mich bemühe,
die klare Darstellung meiner Gedanken,
die ich bis zur Perfektion ausarbeite.

Alles in meinem Kopf, jeden Tag
ein Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten und Willkür,
mutige Kämpfe gegen Kapitulation,
Argumente finden und belegen,
überlegtes Taktieren und nie den Überblick verlieren.

Doch alles bleibt in meinem Kopf gefangen
und kommt nie ans Licht.
Es rebelliert und zerreißt mich
in langen Nächten und an Tagen,
an denen sich die Gedanken
in ihrem Käfig wälzen,
von der Wirklichkeit gequält und
einem Schmerz unterworfen,
der nicht herausgeschrien wird.

Gedanken sollten sich immer und überall entfalten.
Wenn alles im Kopf bleibt,
haben wir viele überfüllte Gefängnisse
mit Schlössern ohne Schlüssel und
Freiheit ohne Türen.

Lassen wir die Gefangenen entkommen.

©2022 Sisyphus Verlag, Klagenfurt/Österreich

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BLUES

Der Ton ist klar, schwebt in der Luft
und fällt dann eine Terz nach unten.
Der Mann hält die Mundharmonika fest
in seinen Händen und es scheint, als könne
die Kraft seiner Lunge die Lamellen
des Instruments verbiegen.
Es geht mit kurzen Tupfern
seiner geschmeidigen Lippen
über das strapazierte Register weiter.
Töne, kurz, lang, traurig oder fröhlich,
verzaubern ein Stück des Marktplatzes,
auf dem Menschen nichts weiter tun
als keine Zeit zu haben
und unnütze Wege zu gehen.
Der Spieler steht mit geschlossenen Augen
auf seiner imaginären Bühne und
ist eins mit seiner Harmonika.
Die städtische Bluesstatue.

Ein  kleines Mädchen, etwa 5 Jahre alt,
bleibt vor ihm stehen und schaut auf.
Sie bemerkt seine geschlossenen Augen und
dass er ihr keine Aufmerksamkeit schenken wird.
Sie schließt ihre ebenfalls.
Ein kleines Versteckspiel, das sie zum Lachen bringen soll,
doch daraus wird nichts.
Dafür wird sie, wie von Zauberhand,
von der traurigen Melodie eingefangen,
die der Musiker nun eindringlich
über den Marktplatz schickt.
Das Mädchen fängt mit kleinen, unbeholfenen Bewegungen
zu tanzen an und wiegt sich dann immer rhythmischer
zum gefühlvollen Spiel der Harmonika.
Da sind sie, der Musiker und sein Publikum.
Zwei Meter voneinander entfernt, aber trotzdem so nah,
wie sie sich nur sein können.

Als die Melodie mit einer verhaltenen Blende
langsam ausklingt und der letzte Ton
im Raum ihrer privaten Arena nachhallt,
öffnen beide gleichzeitig ihre Augen.
Das Mädchen lacht und ein Leuchten,
das jede Nacht durchdringen könnte,
scheint von ihr auszugehen.
Der Musiker schaut auf sie hinab und
spürt eine Wärme wie von plötzlichen Sonnenstrahlen,
die das Grau eines kalten Tages durchbrechen.
Er nickt ihr zu und bevor sie bemerkt,
dass er etwas sagen will,
hat sie sich umgedreht und
ist in der Menschenmenge verschwunden.

Der Musiker klopft die Harmonika aus.
Ein Encore wird heute nicht gespielt.
Mehr Blues geht nicht.

©2022 Sisyphus Verlag, Klagenfurt/Österreich

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